Architekturtheorie des 20. Jahrhunderts.

DISP 155 4/2003

Architekturtheorie des 20. Jahrhunderts.

moravanski2Endlich wieder Theorie – und zwar eine Sammlung von 100 architekturtheoretischen Texten aus dem 20. Jahrhundert: Da ist einmal die Textsammlung selber, die einen weit gefassten Überblick ermöglicht, da sind die das Buch und die einzelnen Abschnitte einleitenden Texte der Herausgeber, die für sich wiederum einen spannenden Beitrag zur Entwicklung und zum Stand der Theoriediskussion leisten und da sind weiter die kurzen Einführungen zum Stellenwert der einzelnen Texte im Gesamtwerk des jeweiligen Autors.

Der Herausgeber Akos Moravansky versteht Architekturtheorie als „Reflexion und Vermittlung“, als „Nachdenken über die Art wie Architektur wahrgenommen und verstanden werden kann“. Er setzt sich damit ab von der Theorie als Manifest, als Programm, als „Teleologie der Wegbereiter“ und Legitimation der Arbeit bestimmter Architekten oder Architekturströmungen. Ausserdem stellt er die interessante Frage: „Wer darf glaubhaft über Architektur reden?“ Die „Offenheit der Baustelle des Theoriebaus“ soll es dem Leser ermöglichen, „aus den hier bereit gestellten Elementen die eigene Theorie über die Architektur zu bauen“.

Gemäss einem Statement von André Corboz beginnt das 20. Jahrhundert bereits 1859 (Archithese 3/93). Auch die Textsammlung Moravanskys beginnt mit Semper (1860) und Viollet -le- Duc (1854) mit Texten aus der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts. In den Einführungen zu den einzelnen Abschnitten holt der Herausgeber sogar historisch noch weiter aus.

Die Texte sind fünf thematischen Überschriften zugeordnet: Damit will der Herausgeber eine historisierende Betrachtungsweise vermeiden. Dies zugunsten von bewusst als willkürlich bezeichneten, „retroaktiv“ gewählten Themenfeldern, die Dialoge unterschiedlicher Positionen stimulieren sollen.

Dabei sind nicht nur Architekten bzw. Architekturtheoretiker vertreten, sondern auch Philosophen, Soziologen, Medientheoretiker, Schriftsteller und andere Nicht-Architekten. Der Autor verwendet in seiner Einführung anstelle des Begriffs des Interdisziplinären den unverbrauchteren Begriff der „Interferenzen“. Der Eindruck einer linearen chronologische Abfolge oder gar einer „monolithischen Architekturtheorie“ soll vermieden werden.

Einleitung und Textsammlung von „Vom Stilus zum Branding“ gehen den sich wandelnden Auffassungen zum Stilbegriff nach – Stil als Verwendung eines bestimmten Formenrepertoirs, Stil als Kommunikationssystem und Stil als Bedeutungsträger, Stil und Identität, Sehstile, Lebensstile usw. – und hinterfragen insbesondere die Positionen, die diesen Begriff immer wieder aus unterschiedlichen Gründen ablehnen oder für ihre eigene Arbeit zurückweisen. Wichtig auch die Aussage, dass das Verhältnis zu Form und Material geschichtlich vermittelt ist. Denn: „Ein Ziegel ist… ein kultureller Artefakt“.

In „Die Wahrnehmung des Raumes“ weist der Herausgeber zunächst einmal auf das geringe Alter des Raumbegriffs hin. Der Beginn einer weiter gefassten Raumdiskussion wird datiert mit „dem Zerfall des perspektifisch-einheitlichen Raumes“. Raum sei heute ein Schlüsselbegriff geworden, „der alle Türen zugleich öffnen soll“. Der sorgfältig argumentiernde Blick hinter diese Türen zeigt die schrittweise, oft widersprüchliche Entfaltung des Raumbegriffs um die Jahrhundertwende zum und im 20.Jahrhundert.

„Konstruktionen der Natur“ umfasst Texte zur Geschichte der Bezugsgrösse ‚Natur‘ und ihrer wechselnden Bedeutungen. Die Einleitung zeigt wie ‚Natur‘ immer wieder als „legitimierendes Konstrukt“ angeführt wird – organisch, einheitlich, harmonisch, elementar, sparsam, mit weniger mehr leisten, von jeglichem individuellem Formwillen frei, die Natur der Baustoffe, die Analogie zur Natur, usw. – und befasst sich eingehend mit den Theorien zum Zusammenhang von Form und Konstruktion.

Der Abschnitt „Monumentalität“ versammelt Texte über Monumentalität als teils noch intaktes Bild von in Gebäuden verkörperten gesellschaftlichen Werten, vor allem in der Zeit vor dem 2. Weltkrieg, und teils ihrer Beurteilung als „mühsam fortgeschleppte Konvention“. Nach dem Krieg mündet die Rehabilitierung des Begriffs unter anderem in die „Monumentalisierung der Konstruktion“, über die „Lesbarkeit der Stadt“ in die Untersuchungen und Thesen von Muratori und in die Typenlehre von Aldo Rossi und geht weiter zu den Monumentalisierungen von Pop-Objekten durch Oldenburg und Gehry und zur „Einsamkeit des grossen Objekts“.

In der Einführung zum Themenfeld „Der Ort der Architektur“ wird verwiesen auf die Mehrfachbedeutung des Begriffs als Ort der Architektur innerhalb der Gesellschaft, als konkreter Ort des architektonischen Geschehens, als Genius loci, als Ort im Kopf, als Heterotopie, als Nicht-Ort.
 Als gleichsam theoretischer Ausblick schliesst ein Text des ungarischen Schriftstellers Peter Nadas das Buch ab : Die Stadt als „den Abdruck jener Handfläche von einst“ zu verstehen, wird zum Aufruf, das „Gespür für den erregenden und grossartigen Abdruck“ zu entwickeln, jene „Handfläche der Geschichte“ überhaupt erst zu bemerken.

Hier wäre es natürlich interessant, wenn der Herausgeber seine zugrundeliegende ‚Metatheorie‘ und das ‚Kritische‘ der ‚kritischen Antologie‘, so der Untertitel des Buches, etwas deutlicher explizit machen würde.

Wünschenswert wäre zudem ein Wort zum Stellenwert der in bestimmten Architekturprojekten gleichsam nonverbal gebündelten und verdichteten Theorie innerhalb des gesamten Diskurses (z.B. Candilis/Josic/Woods, Jörn Utzon).

Natürlich ist es einfach bei solchen Unterfangen Lücken zu bemängeln, doch sei die Anmerkung erlaubt, dass trotz der erklärten Absicht, kulturelle Verflechtungen und Paradigmenwechsel aufzuzeigen, Namen wie David Harvey, Pierre Bourdieu oder Gerhard Schulze nicht erwähnt werden. Etwas erstaunlich auch, dass Theoretiker ‚im eigenen Haus‘ wie André Corboz und Adolf Max Vogt – nach nur einer Generation – im Index der im Zusammenhang mit Architekturtheorie erwähnten Personen bereits nicht mehr vorkommen.

An wen richtet sich das Buch? Für die Macher von Architektur eine wichtige Anregung zur Reflexion des eigene Tuns und seiner theoretischen Wurzeln. Für die beobachtenden Fachleute aus Architektur und Umfeld eine Anleitung zur Schärfung des Blicks und zur Reflexion der sich dauernd verändernden Bedeutung von Architektur sowohl in der Gesellschaft, wie auch im Selbstverständnis der Profession. Für die Lehrer ein wertvolles Arbeitsmittel. Für Laien wird eindrücklich die Tatsache vermittelt, dass Architektur ein professioneller Diskurs mit fachspezifischer Theorie ist. Und sie werden eingeladen sich auch als Laien darauf einzulassen.

Zusammen mit Ulrich Conrads ‚Programme und Manifeste der Architektur des 20. Jahrhunderts‘ vermittelt das Buch einen umfassenden Überblick über die Theoriebildungen im industriell geprägten Zeitalter der Moderne.
Dazu erhält man einen Einblick in die Kritik an dieser Moderne und in neue Wahrnehmungsweisen und Deutungsmuster der letzten Jahrzehnte, in das Schillern dieser Ansätze zwischen grundsätzlicher Ablehnung, Beobachtungen unter dem Vorzeichen von Verlust und Entwurzelung, Resignation, Skepsis, Ironie, „poetischem Transfer“ und Affirmation. Dies als widersprüchliche Antworten auf die Erscheinungen des Übergangs zur nachindustriellen Gesellschaft.

Wer dadurch neugierig geworden ist und auf die Zeit von 1960 bis zur Gegenwart gleichsam fokussieren möchte, findet in einem ebenfalls 2003 erschienenen Sammelband architektur_theorie.doc, texte seit 1960, mit 38 Texten und 8 Projekten aus dieser Periode von Gerd de Bruyn und Stephan Trüby eine spannende Ergänzung. Im Unterschied zu Moravansky macht de Bruyn in einem Abschnitt unter dem Titel Plädoyer für die Ketzer und Pioniere – Theorie einer heterogenen Architektur seine eigenen theoretischen Positionen deutlich. Der Aufbau des Buches ist ähnlich. Die Texte sind zu acht sogenannten ‚Terrains‘ gruppiert, die ihrerseits mit je drei Schlüsselbegriffen charakterisiert werden. (z.B. Ort, Region, Globalisierung“ oder „Typus, Autonomie, Erinnerung). Damit soll „der nomadische Charakter des Denkens“ deutlich gemacht werden. Die Autoren formulieren in ihren Einführungen zu den Texten knapp und pointiert und fordern zur eigenen Stellungnahme geradezu heraus.

Beide Bücher seien allen Interessierten – und auch bisher Nicht-Interessierten – wärmstens empfohlen.

Akos Moravansky (Hrsg.), Architekturtheorie im 20. Jahrhundert, Eine kritische Antologie, unter Mitarbeit von Katalin M. Gyöngy, Springer Wien NewYork, 2003, ISBN 3-211-83743-4, 591 Seiten.

Gerd de Bruyn, Stephan Trüby, unter Mitarbeit von Henrik Mauler und Ulrich Pantle, architektur_theorie.doc, texte seit 1960, Birkhäuser – Verlag für Architektur, Basel Boston Berlin, 2003, ISBN 3-7643-6973-6, 352 Seiten.