Der ‚fromme Wunsch’ eines Atheisten

„Der Bund“ – Essay – Wettbewerb 28.12.2011 Thema: „Ich glaube nicht an Gott, aber ich vermisse ihn“

Der fromme Wunsch’ eines Atheisten

Ihre Ausschreibung hat mich etwas provoziert. Weder empfinde ich eine diffuse Trauer, noch eine spirituelle Obdachlosigkeit. Dies zu meiner Motivation, an Ihrer Ausschreibung teilzunehmen. Ich muss dazu eine kurze Vorbemerkung machen. Wer sich heute als Atheist outet, wird bald einmal in die Ecke eines Eiferers oder gar Sektierers gestellt. Ich nenne deshalb meinen Beitrag meine ganz persönliche Atheismus-Variante. Sie hat, etwas vereinfacht gesagt, in meiner Biographie zwei Phasen:

Die erste liegt weit zurück: Es ging um die Loslösung vom naiven Kinderglauben in der Pubertät, dann um deren Fortsetzung im jungen Erwachsenenalter, zunächst die Ablehnung der kirchlichen Konventionen: keine kirchliche Trauung, später keine Taufe der Kinder, um 1970 herum erfolgte dann der Kirchenaustritt. Trotzdem ist mir natürlich klar, ich bin von einer zürcherisch reformierten Familie und Umgebung sozialisiert.

Die zweite Phase begann sehr viel später, teils durch Neugier und Interesse verursacht, und teils durch Zufälle.

Ich verfolgte im Februar 2007 am ZDF das philosophische Quartett (Peter Sloterdijk und Rüdiger Safranski) mit dem Thema der Instrumentalisierung der monotheistischen Religionen für politische Machtausübung.
Und ich fand anfangs 2008 ein Buch von Arnold Künzli zu ähnlichen Themen, erstaunlicherweise auf einer Verramschungsbeige.

Beide Anstösse wurden Auslöser, meinen ‚Vulgär-Atheismus‘ etwas zu differenzieren:
Zunächst Arnold Künzlis These, die Suche nach Erklärungen des nicht – Erklärbaren als ‚anthropologische Konstante‘ der menschlichen Geschichte zu bezeichnen, brachte mir einige für mich wichtige neue Einsichten: Ein Bereich im menschlichen Gehirn beschäftige sich, seit es Menschen gebe, mit dem Umgang mit dem Unbekannten, mit Tod, Zukunft, Herkunft, mit nicht – Erklärbarem in den Menschen und ihrem Umfeld, mit Naturkatastrophen, Gestirnen, etc. und schaffe sich im weitesten Sinne Orte und Bezeichnungen für entsprechende Symbole und Kulte.

Wir sehen dies noch in der Gegenwart, wenn asynchrone kulturelle Entwicklungsstufen aufeinander treffen: Wenn australische Ureinwohner dagegen protestieren, dass ihr heiliger Berg (Uluru, Ayers Rock) von Touristen überschwemmt wird.

Ich habe Künzlis These geschichtlich verstanden: Dieser Bereich des Nichtwissens, den jede vorgeschichtliche und auch jede geschichtliche Epoche mit ihren heiligen Bergen, Höhlen, Dämonen, Geistern, Göttern, Propheten, Messiassen, Schöpfungsmythen, Offenbarungen, Apokalypsen, mit ihren Himmeln und Höllen, Paradiesen und Erlösungsgeschichten, etc. füllt, d.h. alles, was, wenn ich nicht irre, als ‚Transzendentes‘ bezeichnete, ist ein der jeweiligen menschheitsgeschichtlichen Epoche entsprechendes Konstrukt des menschlichen Gehirns, es ist ein kulturhistorisches Produkt der jeweiligen Zeit, und es ist ohne menschliches Gedächtnis, ohne Übermittlung von Generation zu Generation, ohne eine Form von ‚Sprache’, nicht existent, also ein menschliches Konstrukt.

Religiöse Zeitzeugen als Kulturgeschichte zu erfahren, wurde für mich deutlich und eindrücklich in Athen auf einer Reise 2008: Das gesamte Wissen und Können einer Epoche ist konzentriert im Parthenon – Athene – Tempel. Heute finden dort keine kultischen Handlungen mehr statt. Aber Tausende von Touristen bewundern den einzigartigen Ort und sein kulturelles Umfeld.

Für mich eine phantastische und irgendwie beruhigende Vorstellung: die monotheistischen Religionen wären dereinst nur noch in ihren historischen Dokumenten, Kunstwerken und Monumenten für Historiker und Tausende von Touristen interessant… Leider sind wir weit davon entfernt.

Eine ‚Renaissance der Religion’ insbesondere als Entwicklung von Kollektiven, erscheint mir, wäre ein gesellschaftlicher und kultureller Rückschritt und überhaupt nicht wünschbar.

Mit den Überlegungen zur zweiten Quelle und Anregung, dem Thema des Philosophischen Quartetts, entferne ich mich etwas vom eingangs postulierten ganz persönlichen Atheismus. Aber mit dieser Fragestellung macht der Versuch zu einer Verallgemeinerung meiner Meinung nach Sinn:

Denn inhaltlich gesehen geht es mit der obigen These neben dem Erklären und Deuten auch, wie vom Philosophische Quartett thematisiert, um Machtlegitimation: Um eigene Macht zu legitimieren, lässt man einen Gott ein ‚Machtwort‘ offenbaren, sehr eindrücklich vergegenwärtigt und dargestellt in der Oper Moses und Aron von Arnold Schönberg. Und es geht um Moral, um die Legitimation von Verhaltensregeln durch eine ‚höhere Gewalt‘.

Gibt es Gott? fragte die Sternstunde des Schweizer Fernsehens kürzlich. Natürlich gibt es einen Gott: Die Erfindung der Offenbarung’ eines Gottes ist wohl eine der geschichtlich wirkungsmächtigsten Erfindungen der menschlichen Machtbegabung’.

Meine These dazu ist die: Mit den 3 Monotheismen kommt ein Gott als Legitimationsmittel für Macht über andere ins Welt-Spiel. Judentum und Islam begnügen sich mit Propheten, das Christentum schafft sich sogar einen Sohn Gottes um in der realen und spirituellen Welt zu dominieren.

Der Erdkreis, den der Pabst an Weihnachten segnet, musste erst einmal erobert sein, mit Feuer und Schwert, und Kreuz. Die europäische Aufklärung wurde mit Ausnahme der USA nachträglich leider nicht nachgeliefert. Die Retourkutschen explodieren immer noch.

Aber auch die drei Offenbarungsreligionen sind Ausdruck kulturgeschichtlicher Epochen, auch wenn ihre fundamentalistischen Anhänger diese Geschichtlichkeit nicht wahr haben wollen (im westlichen Kulturkreis und im nahen Osten: Evangelikale, Katholiken, Zionisten, Islamisten).

Am Philosophischen Quartett vom Januar 2010 fällt die Bemerkung, den Katholizismus zum Weltkulturerbe zu erklären, ein sehr treffendes Stichwort und auf alle Offenbarungsreligionen verallgemeinerbar:

Zum Stichwort Welt: Das Problem des Zusammenlebens der Religionen und ihrer Kulturen ist ein globalisiertes. Die Welt sollte sich Kriege im Namen des jeweiligen Gottes nicht mehr leisten ( Bush und Blair sprachen mit ihrem Gott, bevor sie im Irak einmarschierten). Öl (Irak) und Territorium (Palästina) wären verhandelbar, von Gott versprochenes Land (Zionisten) ist es nicht.

Zum Stichwort Kultur: Religionen waren geniale kulturelle Erfindungen und Konstrukte. Kultur tötet nicht. Kultur ist kreativ. Damit Macht zu legitimieren, ist Missbrauch. Macht ist dringend verhandelbar zu machen.

Zum Stichwort Erbe: Religionen sind geschichtlich und Geschichte, Gewesenes. Sie sind die Basis säkularisierter und sozialisierender Werte wie Menschenwürde, Menschenrechte, Gerechtigkeit, Solidarität.
 Die Monotheismen sind hoffentlich bald Geschichte, aber sie sind natürlich auch unsere Geschichte.

Zusammenfassend: Mein persönlicher Atheismus liegt wohl in der vom Ausschreibungsveranstalter als negative Entwicklung bezeichneten Tendenz einer Individualisierung des Weltanschaulichen bis hin zum Atheismus, die seit einer Generation, mindestens in urbanisierten Umfeldern, ohne gesellschaftliche Ächtung und Ausschliessung möglich ist: eine emanzipatorische Öffnung. Sorgen um ein Verschwinden der Religionen mache ich mir deshalb nicht, im Gegenteil.

Die verallgemeinernde Interpretation von Religionen als Weltkulturerbe im beschriebenen Sinn erhofft sich eine noch kaum feststellbare gesamtgesellschaftliche Emanzipation, die Möglichkeit von Auseinandersetzungen über Machtansprüche ohne Legitimation durch Gottheiten, ohne Gewalt und Kriege, durch Verhandlung.

Wohl zunächst „ein frommer Wunsch“ eines Atheisten…

Hermann Huber

 

Nachtrag Juni 2012: in meinem ‚Bund’-Text fehlt ein Mittelteil, der die Frage behandelt, wie die These von A. Künzli in ihrer Herleitung zur Gegenwart zu interpretieren wäre: Es wäre eine Auseinandersetzung zur Aufklärung, die unter Anderem eine Aussage wie die der These Künzlis erst einmal möglich macht, dass ‚Gott’ ein menschliches Konstrukt zu Erklärung des Unbekannten und der möglichst totalen Machtaneignung ist. Dies als Überleitung zum Abschnitt ‚Religion als Weltkulturerbe’.