Tom van Gestel und weitere Autorinnen und Autoren, ‚Parasite Paradise, a manifesto for temporary architecture and flexible urbanism‘, NAi Publishers, Rotterdam 2003, ISBN 90-5662-330-3, 186 Seiten
DISP 157 2/2004
Parasite Paradise und das Parasitäre Prinzip
Im Zusammenhang mit der open-air Ausstellung ‚Parasite Paradise‘ im holländischen Leidsche Rijn im Sommer 2003 erschien eine gleichnamige Publikation mit dem Untertitel ‚a manifesto for temporary architecture and flexible urbanism‘. Die Ausstellung soll damit in einen breiteren theoretischen Rahmen gestellt werden. Die Konzeptmacher verwenden PARASITE als programmatisches Wortspiel und zeigen damit, worum es ihnen geht: ‚Prototypes for Amphibious Readymade Advanced Smallscale Individual Temporary Ecological Houses‘. Als weitere Schlüsselwörter werden genannt: Netzwerkgesellschaft, Deregulierung, Individualität, Mobilität, Geschwindigkeit, Flexibilität, Ephemeres.
Das Land sei besetzt durch Nutzungsplanung, Public Privat Partnership (PPP) und eine generell überreglementierte Raumbewirtschaftung.
Aber es gebe noch resistente Nischen, temporäre Refugien, Raum für Aktionen, meist künstlerische und mit utopischem Gehalt, die durch die Maschen von Wohlfahrtsplanung und PPP rutschten. Es gehe jedoch nicht mehr um gesamtgesellschaftliche Utopien. Träger des Utopischen sei der emanzipierte Städter, der sich innerhalb sozialer Gegebenheiten bewegt, der Öffnungen
i n der bestehenden Ordnung sucht, und auch solche provoziert.
Parasitäres soll das Rigide des offiziellen Planens und Bauens gleichsam überlagern und Orte temporär und überraschend mit Bedeutungen und Einzigartigkeiten versehen, Raum für Unerwartetes, Unvorhergesehenes schaffen, und damit soziale Vernetzungen, ein lebendiges Gewebe, initiieren und bewegen.
Die Orte ‚parasitärer‘ Aktionen sind die neuen Wohngebiete abseits der Kernstädte, die von den grossmasstäblichen Shoppingcenters nicht befriedigend versorgt würden. 1990 habe Rem Koolhaas ‚Bigness‘ angesagt, heute gehe es angesichts dieser grossen polyzentrischen urbanen Felder um ‚Smallness‘, um kleine, flexible und temporäre Interventionen. Sie docken an am Bestehenden, lassen sich aber nicht integrieren.
Die AutorInnen warnen deshalb davor, ihre Konzepte als Rückfall in die Nachbarschaftsideologien der 60er-Jahre zu verstehen. Sie sind sozial und örtlich freier, offener, subversiver, informeller, flexibler.
Mobile Architektur ist denn auch ihre Antwort auf die Bedeutung des Temporären, Flexiblen in ihren Projekten. Sie geben deshalb zunächst einmal einen Überblick über die Geschichte solcher Architekturen in der Moderne, von Fuller über Archigram bis zu Raumkapsel-inspirierten Gebilden. Weit weniger beachtet als dieser Strang der Geschichte sei aber ein profaner, nämlich Wohnwagen, Wohnschiffe, fahrbare Baracken, sie nennen es ‚hybride Formen zwischen Fahrzeug und Bau‘. Hier geht es ihnen nicht mehr nur um das mobile Objekt, sondern auch um mobile, d.h. hier ’nomadisierende‘ Lebensformen, um Luxusnomaden, und um Obdachlose.
Der Ausstellungort ist ein Neubaugebiet, darum entfällt das Potential ‚parasitärer‘ Zwischennutzungen in bestehenden Bauten und ehemaligen Industrie- oder Hafenanlagen, etc. Dafür werden Zwischennutzungen erwogen, die auf bereits heute durch Planung besetzten Reservearealen für erst mittelfristig zu realisierende Autobahnstrecken oder Bahnlinien etc. verfügbar wären.
Das Parasitäre wird somit vielfältig verstanden. Da sind einmal flexible und temporäre Strukturen als Ergänzungen der kulturellen und sozialen Infrastruktur, das, was öffentliche und private Investoren nicht leisten, da sind die kleinen Läden, Werkstätten und Reparaturdienste, ‚fliegende‘ Einrichtungen aller Art, Lokales mit informeller und marginaler Ökonomie, ‚Bottom-up‘-Initiativen, da sind die Freiräume für ‚Ereignisse‘ und künstlerischen Aktionen, Überraschendes und Experimentelles, und da ist auch das weite Feld der Provisorien für Ausstellungen, Sport, temporäre Unterkünfte und Hotels.
Die 23 dokumentierten Beispiele sind objektorientiert, eben ‚Prototypen‘, vom Hightechobjekt für eine Ausstellung, vom temporären Kinobau und aufblasbaren Objekt analog den ‚instant city-Ausstattungen von Archigram, von benutzbaren Gestaltungen zwischen Architektur und Kunstinstallation bis zur fliegenden Pizzeria, dem Strandrestaurant, der Snakbar, der Notunterkunft und simplen Barracke. Sie illustrieren die Idee, sind aber meist anlässlich von besonderen Ereignissen entstanden.
Ein Aspekt kommt deshalb etwas zu kurz: Unter dem Untertitel ‚flexible urbanism‘ liesse sich auch ein ‚parasitäres‘ Agieren vorstellen, das sich keiner eigenen Objekte bedient, sondern sich in bestehenden Strukturen, auch Neubauten und Grossobjekten, gleichsam einnistet, von der temporären Aneignung mit Vereinbarung und Miete bis zur künstlerischen ‚Besetzung‘. Auch wäre es interessant, etwas über die Realisierungsprozesse, die Reibungsflächen. Vereinbarungen und Überlistungen bezüglich der offiziellen Planung und ihrer Vertreter zu vernehmen, in Alltagssituationen, ausserhalb von Ausstellung und inszeniertem ‚Event‘.
Solche gewollten und provozierten Konflikte mit den geläufigen Planungs- und Bauvorschriften versuchen die Akteure des Parasitären zu umgehen, indem sie ihre Bauten und Aktionen in die Nähe künstlerischer Ereignisse und Werke und damit auf die Ebene kulturpolitischer Auseinandersetzung rücken.
Der letzte Abschnitt des Buches ist denn auch der Trennung und Wieder-Zusammenführung von Architektur und Kunst, ArchitektInnen und Künstlern, gewidmet. Dies, so wird betont, jenseits irgend eines übergreifenden Anspruchs für alle, alles und überall. Vielmehr seien die heutigen Projekte fragmentarisch, ephemer, mobil, unfertig, mit offenem und reziprokem Verhältnis zum Publikum, parasitär auch bezüglich Objekten der Architektur. Ausgehend vom Begriff der Konzeptkunst werden künstlerische Installationen und Ereignisse beschrieben, die die BetrachterInnen zu Mitwirkenden machen. ‚Relational Aesthetics‘ nennt die Autorin Jennifer Allen diese Reorganisation der Produzenten-Werk-Rezipienten- Beziehung.
Im Buch wird eine Ambivalenz des ‚Parasitären‘ deutlich: Einerseits soll das mangelhafte Gegebene durch kleine kreative baulich-gestalterische Interventionen lebenswerter und bewohnbarer gemacht werden; andererseits zeigen die Verweise auf Künstler wie das Atelier Van Lieshout, Matta-Clark, Christo, Daniel Buren, Mario Merz und andere auf eine weiter reichende Interpretation des ‚Parasitären‘: Mit gestalterischen Mitteln soll dieses Gegebene punktuell und temporär durch Unvorhergesehenes aufgebrochenen werden, damit seine grundsätzliche Instabilität, Unsicherheit und Ungewissheit provoziert und wahrnehmbar wird.
Wer diesen zweiten Aspekt weiter verfolgen möchte, dem sei die Studie von Daniela Petrini und Tanja Trampe mit dem spannenden Titel ‚Ermittlungen über das hartnäckig-formidable und kreative Potential des Parasitären Prinzips‘ empfohlen. Die Autorinnen nennen ihre Arbeitsweise, mit künstlerisch-gestalterischen Mitteln kritisch in gesellschaftliche Zustände und Befindlichkeiten einzugreifen, das ‚Parasitäre Prinzip‘.
Ziel ist zunächst, zum ‚fremden Blick‘ auf das Vertraute zu verführen. Dazu setzen sie Poetisches und Groteskes als Mittel der Verfremdung ein. Das damit provozierte allenfalls noch naive Staunen soll dann gestört, ja verstört werden. Verwiesen wird auf Arbeiten von Alexander Kluge, Sophie Calle, Thomas Hirschhorn und andere
Es geht nicht primär um Objekte, sondern um die Einleitung von Prozessen. „Progressiv-agressive Haltungen sollen neue Formen von Kreativität irgendwo zwischen Kunst und sozialer Arbeit generieren“..
Der Ansatz ist dem holländischen verwandt: „Unser Handeln zerstört die etablierten gesellschaftspolitischen Strukturen nicht, vielmehr verschiebt, erweitert und stört das Parasitäre Prinzip diese (Strukturen) und nutzt sie zu seinen Gunsten: Es ermittelt Freiräume“ ..“Er (der Parasit) streut überall Anfänge…“
Tom van Gestel und weitere Autorinnen und Autoren, ‚Parasite Paradise, a manifesto for temporary architecture and flexible urbanism‘, NAi Publishers, Rotterdam 2003, ISBN 90-5662-330-3, 186 Seiten
Daniela Petrini, Tanja Trampe, ‚Ermittlungen über das hartnäckig-formidable und kreative Potential des Parasitären Prinzips‘, Eigenverlag, Zürich 2003, <gast@menuedata.net>,198 Seiten