IBA Stadtumbau 2010, schrumpfende Städte in Sachsen-Anhalt

disP 164 1/2006

IBA-Büro, Die anderen Städte, IBA Stadtumbau 2010. Band 1: Experiment, jovis Verlag GmbH Berlin 2005, ISBN3-936314-95-0, Edition Bauhaus,

Band 15, ganzer Text deutsch und englisch, 271 Seiten.

IBA Stadtumbau 2010, schrumpfende Städte in Sachsen-Anhalt

Mit ihrem Band 1 ‚Experiment‘ stellt die Internationale Bauausstellung ‚IBA Stadtumbau 2010′ eine Dokumentation zum Stand ihrer Arbeiten zum Problem ’schrumpfende Städte‘ vor: ¨Der Band setzt sich zusammen aus einem ersten Teil mit planungspolitischen, theoretischen und konzeptionellen Beiträgen, in der Buchmitte den 10 IBA-Grundsätzen, und einem zweiten Teil, der Einblick in die konkreten ersten Ansätze und Massnahmen in den 15 beteiligten Städten in Sachsen-Anhalt gibt. Postuliert wird „eine offensive Auseinandersetzung“ und „handeln statt reagieren“; es gehe um „innovative und kreative Lösungen“.

Karl-Heinz Daehre verlangt „angesichts einer „unumgänglichen Schrumpfung der Städte“, ein „Umdenken in vielen Politikfeldern“. Seit es Städtebau als Wissenschaftsdisziplin gebe, sei es in Mitteleuropa grundsätzlich nur um Wachstum gegangen. Die völlig neue Herausforderung sei deshalb, Stadtentwicklung unter umgekehrten Vorzeichen sehen zu müssen.

In Sachsen-Anhalt stünden zur Zeit knapp 200’000 Wohnungen leer. Der Markt allein könne eine Gesundung nicht leisten, die finanziellen Handlungsspielräume seien begrenzt. Ziel der IBA sei, eine interdisziplinäre Diskussion zu entfachen, den Austausch von Erfahrungen national und international zu organisieren und modellhafte Beispiele für Stadtteile unterschiedlicher Typologie zu entwickeln, und dabei Öffentlichkeitsarbeit und Bürgerbeteiligung zu moderieren.

Omar Akbar zeichnet das ideengeschichtlichen Selbstverständnis, die „Erzählung der europäischen Stadt“ nach. Er fragt nach dem „ideologischen, ja utopischen Gehalt des Urbanen“ und sucht „nach neuen Denkfiguren und Gestaltungsmöglichkeiten des Urbanen in der Schrumpfung“.

Unter dem Titel „Heterogenität und Aushandlung“ beschreibt er den Prozess der Liberalisierung und Pluralisierung der städtischen Kultur in den letzten Jahrzehnten, das Wirken von Öffentlichkeit und Gegenöffentlichkeit und stellt fest, es gebe nicht mehr die eine städtische Identität, die sich in einer bestimmtem baulichen Gestalt niederschlage. Die unterschiedlichen Öffentlichkeiten und Gegenöffentlichkeiten in ihren pluralen Interpretationen ergäben erst, „was das jeweilige Urbane“ sei. Es gelte, „Stadtentwicklung als einen alltäglichen und kontinuierlichen Aushandlungsprozess“ zu begreifen.

Schrumpfungsprozesse seien durch das unterschiedliche Zusammenwirken der Faktoren Schrumpfung, Suburbanisierung, Geburtendefizit und Deindustialisierung, d.h. arbeitsmarktinduzierte Abwanderung ausgelöst worden und durch herkömmliche Planungsinstrumente nicht mehr steuerbar. Diese Steuerungskompetenz sei zurückzugewinnen, um den Übergang von der schrumpfenden zu „schlanken Stadt“ gestalten zu können.

Ein nationaler und internationaler Erfahrungsaustausch, der „Blick von aussen“, werde die Arbeit begleiten und intensivieren. Es gelte, nicht defensiv „Mängel“ beheben wollen, sondern mit Experimenten, „eine neue Dynamik der Stadtentwicklung hervorzubringen“.

„Die IBA zum Stadtumbau in Sachsen-Anhalt entwickelt Visionen für eine grundsätzliche Kursänderung in der Stadtentwicklung“.

Walter Prigge sieht drei Quellen des Schrumpfens: die Deindustrialisierug,. die Suburbanisierung und die Transformation, d.h. den Strukturwandel der sozialistischen Organisation von Politik, Gesellschaft und Ökonomie in Osteuropa . Er vergleicht Ostdeutschland mit der Situation in Grossbritannien, den USA und Russland. Er diagnostiziert eine „Verstädterung ohne Stadt“ und spricht dabei von „Posturbanismus“ als „der Reduktion des Alltagslebens auf Familienwohnung, Automobilität und Mall-Kultur“.

Mit der Verteilung und Lenkung der Fördermittel in der gegenwärtigen planungspolitischen Situation beschäftigt sich Jochen Korfmacher. Er ist besorgt darüber „dass einige der einflussreichen Akteure des Stadtumbaus bisher noch wenig überzeugt sind“, am Projekt Stadtumbau teilzunehmen. Es seien stadtspezifische Profile und Potentiale zu identifizieren und Protagonisten zu ermutigen. Die IBA stelle einen „Strukturbaustein“ her und könne damit eine Vorreiterrolle einnehmen.

Unter dem Titel „Genius gegen Giesskanne“ wendet sich Rüdiger Schulz gegen den Anspruch, „überall gleiche Lebensbedingungen garantieren zu wollen“. Der Staat solle gezielt und begründet fördern. Ein Strategiewechsel und eine bessere Koordination der Fördermittel sollen es erlauben, „gezielt zu vergeben, statt ‚gerecht‘ zu streuen“. In den IBA-Städten habe „die qualitative Profilierung der Standorte durch thematische Schwerpunkte bereits begonnen“. Die Stadt neu zu denken heisse auch, „erweiterte Formen der Partizipation in der Zivilgesellschaft zu etablieren“.

Torsten Blume beschreibt ‚Neue urbane Figurationen‘: „Worin besteht das Städtische einer Stadt nach ihrer Schrumpfung?“ Suburbanisierung und Perforation sollen nüchtern akzeptiert und konstruktiv, ohne ideologische Vorurteile weiterentwickelt werden. Die überkommenen Muster der dichten und kompakten Stadt würden sich immer weniger realisieren lassen. „Die Basis werden künftig spezifische, mit einander verbundene Kernbereiche und Kernstrukturen sein, die für mehrere Nutzungsprogramme offen sind, für Differenz, Überraschungen sowie für temporäre oder transitorische Urbanität“. Er spricht von „Wildnis in der Stadt“, von der „Formulierung der Ränder“ und von „hybriden Knoten in verschiedenen Massstäben“. Man solle sich hüten, die Brachen mittels inhaltsloser Events beleben zu wollen, vielmehr gehe es um die Stärkung und Qualifizierung vorhandener und entwicklungsfähiger urbaner Knoten, polyvalenter Kerne und Vernetzungen.

Als Modelle möglicher Figurationen beschreibt Blume zunächst den Rückzug und Rückbau auf einen kompakten, neu zu verdichtenden Kernbereich, analog dem Bild der alten europäischen Stadt, dann die Stadt als Archipel, d.h. die Konzentration auf urbane Inseln mit räumlich ausformulierten Rändern, die Band- oder Ringstadt, d.h. die Konzentration auf eine Verkehrsform, dann die Netzwerkstadt, d.h. die Konzentration auf Netzwerke der Infrastruktur, und als Extremfall die neu gegründete Stadt „als Konzentration auf den radikalen Neuanfang“. Natürlich würden sich diese Modelle überlagern und durchdringen. Es entstünden Mischformen und „Patchwork-Urbanität“.

In der Mitte des Buches finden sich das IBA- Organigramm und die 10 IBA-Grundsätze.

Der zweite Teil des Bandes dokumentiert den Stand der Arbeiten in den 15 IBA-Städten und beschreibt auch deren Weg zur IBA-Stadt. Wie im ersten Teil des Bandes angekündigt und begründet, sucht jede Stadt im Dialog mit dem IBA-Büro ihr stadtspezifisches IBA-Thema, das gleichsam die „Eintrittskarte“ zur Teilnahme darstellt.

Die 15 Städte und ihre Themen werden kurz vorgestellt und die Themenwahl begründet. Einige Beispiele: Aschersleben – „Der Innenstadtring-Schnittstelle im Stadtgefüge“, Bitterfeld/Wolfen – „Die Chemie stimmt – Netzregion Bitterfeld-Wolfen“, Dessau -„Stadtinseln – urbane Kerne und landschaftliche Zonen“, Halle – „Balanceakt Doppelstadt“, Strassfurt – „Aufheben der Mitte“, etc.

Das Buch schliesst ab mit detaillierteren Berichten aus drei Städten: Lutherstadt, Dessau und Aschersleben.

Sie erlauben es dem Leser, der Leserin, ergänzend zum Kurzbeschrieb detailliertere Einblicke in den Prozess und die Probleme der ersten Phase der Umsetzung zu gewinnen.

Die eingestreuten Bildteile geben im ersten Teil Eindrücke und Stimmungen aus den beteiligten Städten wieder. Im zweiten Teil werden Ausschnitte der besprochene Stadt, etwas Werkstattatmosphäre und erste Zwischenresultate aus der Arbeit vermittelt. Hier dürften die Bildlegenden etwas ausführlicher sein.

Insgesamt zeichnen die Autorinnen und Autoren von den planungspolitischen und konzeptionellen Herleitungen und Grundsätzen bis zum konkreten Projekt am konkreten Ort einen nachvollziehbaren Zusammenhang. Und sie machen neugierig auf die Dokumentation der weiteren Schritte.

Wen kann das Buch interessieren? Zunächst Fachleute und Politiker, die sich mit nicht-wachstumsorientierte Planungsstrategien und -verfahren beschäftigen. Dann auch Neugierige, die das Eins-zu-Eins-Experiment vor Ort kennen lernen und weiter mitverfolgen möchten. Es handelt sich jedoch, wie die AutorInnen plausibel darstellen, nicht nur um ein spezifisch ostdeutsches Problem. Interessieren könnte es auch westliche Netzstadt- und Zwischenstadt-Experten, denn die Strukturmodelle des Schrumpfens korrellieren mit denen der Expansion. Und eventuell fühlen sich auch Fachleute angesprochen, die sich analog zur Deindustrialisierung dort, mit ‚Deagrarisierungs‘- und Abwanderungsproblemen hierzulande beschäftigen.

IBA-Büro, Die anderen Städte, IBA Stadtumbau 2010. Band 1: Experiment, jovis Verlag GmbH Berlin 2005, ISBN3-936314-95-0, Edition Bauhaus,

Band 15, ganzer Text deutsch und englisch, 271 Seiten.