Arcadia, gesellschaftlich kontaminiert.

IMG_6809Bas Princen, Artificial Arcadia, Photos, mit Texten von Bas Princen, Wim Cuyvers, Jeff Derksen, Lars Lerup, Baart Lootsma, Dirk Sijmons, 2004, 010 Publishers Rotterdam, ISBN 90-6450-511-X, 125 Seiten

DISP 159  4/2004

Arcadia, gesellschaftlich kontaminiert.

Ein Fotoband, „Artificial Arcadia“, 43 Farbaufnahmen holländischer Landschaften vom Designer, Architekten und Photographin Bas Princen. Die kommentierenden Texte stammen von ihm selber und von Autoren aus dem Design-, Landschafts- und Architekturbereich. Eines ihrer Themen ist denn auch die Frage, was Berufskolleginnen und -kollegen aus den Bildern von Bas Princen an neuen Einsichten und Erkenntnissen gewinnen könnten. Die Herausgabe des Buches ist vom Niederländischen Architektur-Fonds unterstützt worden.

Auf den ersten Blick zeigen die Bilder unterschiedliche Gegenden mit losen Gruppen von Leuten. Bauten kommen kaum vor. Erst die Bildlegenden erschliessen die Bilder deutlicher: Es handelt sich zum Beispiel um ein Sanddepot, eine Autobahnbaustelle, einen Deich, einen ehemaligen Militärflugplatz, einen Lärmschutzwall, einen künftigen Hafen, eine aufgegebene Kiesgrube, Räume, die ihre Nutzung gerade hinter sich gelassen haben, oder sie noch vor sich haben, Areale in Veränderung, Niemandsland oder gar ‚Abfall‘. Und es befinden sich immer Leute auf diesen Geländen, die einzeln oder in Gruppen irgend etwas machen, etwas suchen, photographieren, Fliegenfischen, auch ohne Wasser, im Wald oder über Hügel 4×4- und Motorradfahren, Drachenfliegen, Hängegleiten und Surfen oder Automobilmodelle laufen lassen. Pro Gruppe gleichartige Kleider fallen auf. In den Bildern wirken die Leute, im Verhältnis zur Weite und Grossräumigkeit der Landschaft, klein. Das täuscht insofern, als die mitgebrachten Geräte ihrerseits sehr raumbeanspruchend sind.

Princen schreibt, als Photograph sichte er die Landschaft und die Art wie Leute damit umgingen. Als Designer fasziniere ihn, dass die Leute Produkte, Geräte, brauchten, um sich mit ihrer Umgebung in Beziehung zu setzen. Das Objekt werde gleichsam „Prothese“. Landschaft sei Kontext, in welcher das Produkt

Erfahrungen generiere. Und er fragt nach dem Einfluss der zahllosen Produkte auf das Verhältnis der Leute zu ihrer Umwelt ? Und wenn sich jedes Gerät seine temporäre Landschaft schaffe, ob denn Produkte Landschaft generierten, der Produktdesigner zum Landschaftsdesigner dieser „künstlichen prä- und postindustriellen Landschaften“ mutiere?

Das Gemeinsame seiner Bilder sei, dass die Leute sehr viel Raum brauchten. Und sie seien „nomadisch“, d.h. sie würden auf der Suche nach passenden Konditionen die Gegenden beliebig wechseln.

Die holländische Landschaft sei beplant und programmiert, nach Aktivitäten sortiert und benannt. Aber die Leute auf seinen Aufnahmen definierten die Landschaft mit ihren mitgebrachten Geräten selber. Sie suchten dazu Gelände auf, die schwach oder nicht mehr programmiert seien, offen für temporäre Nutzungen und informellen Gebrauch. Sie gehörten zu Organisationen, seien in hohem Grade vernetzt, und auch Kommunikationssysteme definierten Landschaft.

In den theoretischen Begleittexten werden Fragen gestellt wie: Was für ein Bild von Landschaftsgebrauch und Natur wird hier vermittelt? Was wird in diesen Bildern an gesellschaftlichen Strömungen sichtbar?

„des yeux qui ne voient pas“ (Le Corbusier): Um die Andersartigkeit und Fremdheit der, auf den ersten Blick ja bekannt erscheinenden Bilder zu zeigen, setzt sie Baart Lootsma in Bezug zu Texten von Borges, Foucault und De Lautréamont. Die Stadtlandschaft als Patchwork von „Heterotopien“,
fasst er zusammen.
Princens Bilder seien keine anekdotischen Schnappschüsse. Lootsma sieht sie in der Tradition der niederländischen Landschaftsmalerei.

Die Freizeitindustrie produziere kleine individuell brauchbare Geräte, die Umweltkontakte intensivierten, und im laufenden Individualisierungsprozess jeweils Identität auszudrücken erlaubten. Durch kleine technologische Hilfsmittel würden spezifische Orte und Stimmungen entstehen. Die verschiedenen Lebensstile und Subkulturen schafften sich so ihre Landschaften

auf unterschiedlichste Art und Weise selber. Sie hätten keine sichtbare Infrastruktur, jedoch dichte mediale Vernetzung.
Hier würden sich Princens‘ Bilder von denen Walter Niedermayrs unterscheiden. Letzterer zeige in seinen Freizeitbildern vor allem kollektive Infrastrukturen wie Skilifte und Bergbahnen, Infrastrukturen des Massentourismus.

Lars Lerup kritisiert mit Fulminanz und Ironie die verbreitete Annahme, es müssten alle Aspekte menschlichen Lebens unter Kontrolle gebracht und wenn nötig diszipliniert werden. Princen zeige Bilder der marginalen Ränder der dichten hochentwickelten Metropole Holland, Bilder der Ritzen und Spalten im beplantem und organisiertem Raum, Bilder des Fliessenden, Instabilen, Ephemeren, Illegitimen und Abweichenden. Planerinnen und Architekten werden aufgerufen, sich auf die richtige Seite zu schlagen.

Auch Dirk Sijmons stellt zunächst den nicht programmierten Gebrauch von öffentlichen Flächen, das farbenfrohe Spektrum solcher Aktivitäten „in diesem überregulierten kleinen Land“ fest. Es gäbe zu wenig Raum für diese Unternehmungen hier und jetzt, denn was früher den wenigen Wochen in den Ferien vorbehalten blieb, das wollten die Leute mehr und mehr am Wochenende oder gar täglich. Princen dokumentiere diese rasche Veränderung des Freizeitverhaltens und damit den Übergang von der agrarischen Produktionslandschaft zur Konsumlandschaft. Die neuen Geheimnisse, die „Mystik“ dieser neuen Landschaft würden in den kleinen Resten sichtbar, den „Konsum-Ruinen“, von denen nach kurzer Zeit niemand mehr ihren Ursprung kenne.

Wim Cuyvers beschäftigt sich mit den Charakteristiken des öffentlichen Raums. Kennzeichnend sei die Offenheit und Benützbarkeit für jedermann, ob Normalbürger oder Randständiger, Obdachloser oder Zigeuner. Die Leute in Princens Bildern seien aber nirgends Unterprivilegierte. Weil diese Leute ihre Privatheit in diese Freizeitareale mitbrächten, und dies im Bewusstsein technischer Kontrolle über ihre Geräte, wirkten sie letztlich ausgrenzend. Freizeitaktivitäten wären Strategien zur Ausgrenzung. Das sogenannte ‚Niemandsland‘ werde damit besetzt und kontrolliert. Damit naht für Cuyvers das Ende des öffentlichen Raumes.

Das Buch zeigt Bilder von Sachverhalten, die normalerweise in den planenden und gestaltenden Professionen „Marginalien“ oder gar Störungen darstellen, Gebrauch von Landschaft abseits von zugeschriebener Nutzung und Themenparks. Gerhard Schulze würde sie vielleicht zu den „Kulissen des Glücks“ zählen. Und es fragt nach dem Umgang mit diesen gesellschaftlichen Entwicklungen. Die Texte helfen beim Entschlüsseln der Bilder. Sie ergänzen die bildlichen Aussagen als ‚Seh- und Lesehilfen‘. Wertvoll dabei ist, dass unterschiedliche Lesarten vermittelt werden.

Die Bilder selber strahlen eine Klarheit und präzise Poesie aus, welche die teilweise kulturpessimistische Sicht der Kommentatoren relativiert. Aber sie machen deutlich: Es gibt keine ‚unberührte Landschaft‘ oder ‚Natur‘.

Die Kommentare stammen ausschliesslich von Fachleuten aus dem Gestaltungsbereich oder der Wissenschaft. Ein Beitrag zum Stellenwert von Princens Photos im heutigen Diskurs unter PhotographInnen wäre von Interesse gewesen. Meine Vermutung als Laie: in der Pionierphase der Photographie wurden Umwelterweiterungen dokumentiert. (andere Länder, Kriege, Arbeitswelten, Alltag, Milieus, usw.) In den 90er Jahren wurde das Photographieren selber Thema, Wahrnehmung und Spiel mit Mehrdeutigkeit. Bas Princen dokumentiert wieder, aber doppelbödig. Er zeigt irritierende Überlagerungen, disperse und temporäre Kontextverschiebungen im Kleinen, im Massstab von Leuten mit ihren Freizeitausrüstungen.

Das Buch ist ein faszinierendes Fundstück für Planer, Architektinnen und Produktdesigner. Im Unterschied zu den Autorinnen und Autoren des Buches „Die Brache als Chance“ (siehe Besprechung in diese Nummer), die über Lesarten, Konzepte und Projekte der landschaftsgestaltenden Professionen berichten, hat Bas Princen den völlig anderen Ansatz, uns die Rekontextualisierung teilweise derselben Landschaften durch Lifestyle-Gruppen und Subkulturen vorzuführen.

Bas Princen, Artificial Arcadia, Photos, mit Texten von Bas Princen, Wim Cuyvers, Jeff Derksen, Lars Lerup, Baart Lootsma, Dirk Sijmons, 2004, 010 Publishers Rotterdam, ISBN 90-6450-511-X, 125 Seiten