The Factories
DISP 154 3/2003
Tabakfabriken, Kasernen, Schlachthöfe, Viehmärkte, obsolet gewordene Filmproduktionsstätten, Militärbaracken, Lagerhäuser und vieles mehr: Mit dem Übergang zur postindustriellen Gesellschaft und mit dem Ende des kalten Krieges wurden europaweit Areale frei für neue Nutzungen. Auch die kulturrevolutionären Bewegungen der 68er haben versucht, sich dieser Areale zu bemächtigen. Vielerorts mit Erfolg, wie man weiss, aber meist nicht konfliktfrei. Das Buch ‚Factories, conversions for urban culture‘ berichtet über 16 Pionierprojekte in 13 Ländern Europas. Unter der Bezeichnung ‚TransEuropeHalles‘ haben sich diese Organisationen unter einander vernetzt und mit dieser Publikation der interessierten Öffentlichkeit vorgestellt.
Wie der Titel des Buches bereits ausdrückt, geht es ausschliesslich um Umstrukturierungen zugunsten kultureller Aktivitäten. Das Ziel der Selbstdarstellungen ist das Sichtbarmachen der jeweiligen Entstehungs- und Umstrukturierungsgeschichte sowohl der Areale selber -. weniger planerisch/baulich, als politisch/stadtkulturell – als auch der Transformation traditioneller Kulturvorstellungen, der Mischung und Durchdringung von sogenannter ‚Hochkultur‘ mit Populär- und Jugendkultur. Sie verstehen sich als ‚Orte soziokultureller Produktion‘. Von ‚Convivialität und Crossover‘ von Personen, Künsten und Kulturen ist die Rede, von ‚durchlässigen Projekten‘. Als Orte, geladen mit den Geschichten realer Geschichte und gesellschaftlicher Veränderungen, im Spiel mit dem ‚Gedächtnis des Ortes‘, werden sie als prädestiniert gesehen für kulturelle Transformationen, als Impulsgeber, ja Motoren neuer künstlerischer Prozesse, von Konfrontation und Austausch. Das Netzwerk soll Erfahrungsaustausch und Stimulation für weitere Experimente vermitteln.
Es handelt sich durchwegs um relativ stabile, unbefristete Nutzungsverhältnisse, die sich ihre Position in der jeweiligen Stadtpolitik über lange Zeit erkämpft haben. Zwischennutzungen, die für kulturelle und stadtentwicklungspolitische Impulse ebenso entscheidend sein können, sind keine erwähnt.
Die 16 Porträts zeichnen die meist konfiktgeladene Gründungsphase der Institutionen nach. Von einer zum Teil illegalen Besetzung, oft von Vorgängerarealen, von einer Phase des Nomadisierns und von langwierigen Verhandlungsverfahren und politischen Auseinandersetzungen ist die Rede. Die heutige Nutzungsvielfalt und ressortbezogene Schwerpunkte ( z.B. Theater, Musik als ursprüngliche Initianten) werden eingehend beschrieben. Auch die internen Übergangskonflikte des letzten Jahrzehnts, die sich an der Schnittstelle vom Vollversammlungsbetrieb zu einem zunehmend an Effizienzkriterien orientierten Management abspielen, werden thematisiert. Die Schilderungen sind durchsetzt mit Künstler- und Aktivistenportraits.
Die Texte umfassen Beispiele aus den Grosstädten Amsterdam, Barcelona, Berlin , Brüssel, Dublin, Helsinki, Marseille, Wien, aber auch aus Kleinstädten wie Mezzago in der Pooebene, Esbjerg, Esch-sur-Alzette in Luxemburg, Poitier, Tilburg und aus Universitätsstädten wie Cambridge und Lund in Südschweden. Wichtig im Netzwerk sind auch die Verbindungen zu Zentren in Osteuropa, Kontakte zu einer Institution in Leipzig bestanden schon, unter erschwerten Bedingungen, vor dem Abbruch der Mauer. So wie die 68er Bewegungen für die Gründungsphase der westeuropäischen Zentren entscheidend war, so für den Osten die Zeit um 1989. Gezeigt werden die Um- und Aufbrüche an Beispielen in Ljubliana und Leipzig, verbunden mit einem allgemeineren Überblick zur Entwicklung und Befindlichkeit der Zentren in Osteuropa bis zum Jahr 2001.
Die Texte stammen von Journalisten und Sozial-, Wirtschafts-, Medien-, Musik- und AusstellungswissenschaftlerInnen, die zum Teil in den beschriebenen Zentren selber aktiv sind.
Das Fotomaterial ist auf die Vermittlung von Stimmungen ausgerichtet. Dokumentation der ‚Hardware‘ bekommt man nur nebenbei und als Hintergrund zu Gesicht. Ort und Kontext der Objekte werden zwar in den Texten kurz beschrieben, Ausschnitte aus Karten oder Situationsplänen fehlen jedoch.
Da es sich bei allen Texten um Rückblicke über einen längeren Zeitraum handelt, wäre es natürlich interessant, mehr über die stadtverändernde Wirkung auf das nähere und weitere Umfeld zu erfahren. (Stichwort Gentrification, Tertialisierung, u.a.). Die vermittelten Informationen sind denn auch nicht an Fachleute aus dem Stadtplanung- und Architekturbereich gerichtet, sondern eher an gegenwärtige und potentielle Besucher, Betreiber, Künstler und Aktivisten solcher Institutionen. Dazu kommen allenfalls auch heute neu einsteigende Kulturmanager, die sich ein Bild über die soziokulturelle Situation dieser Alternativinstitutionen der Pionierphase ein Bild machen wollen. Sie erhalten Erfahrungsberichte, Einblicke, Daten, Zahlen zur Finanzierung, Adressen und Möglichkeiten des Erfahrungsaustausches. Und nicht zuletzt gibt das Buch wertvolle Ergänzungen zu einem Reiseführer ab, für spezifisch interessierte Adressaten ein spannender Überblick.
Planer und Architekten dagegen erhalten mit Ausnahme der Nennung der jeweils tätigen Architekten vor Ort und der Vermittlung von Stimmungsbildern keine Information. Damit fehlt auch eine Einordnung der Beispiele in eine allgemeinere Bilanz der Umstrukturierungspolitik und ihrer stadträumlichen und architektonischen Ausformungen.
Auch eine kurze Analyse des heutigen Stellenwerts des jeweiligen Zentrums im zunehmend event- und ‚crossover‘-orientierten, pluralistischen Kulturbetrieb würde interessieren.
Das Buch kommt 2001 (französisch), bzw. 2002 (englisch) etwas spät: Zehn Jahre früher hätte es wohl direkter zur Ausbreitung, Stärkung und Vernetzung dieser Institutionen beigetragen. So bleibt der Eindruck eines Rückblicks auf eine zwar intensive und spannende, aber doch weitgehend abgeschlossene Aufbruch- und Aufbauphase.
the factories: conversions for urban culture / TransEuropeHalles, Basel; Boston; Berlin, Birkhäuser 2002.
Ursprüngliche Publikation: Les Fabriques.Lieux imprévus, Les Editions der l’Imprimeur, Paris und TransEuropeHalles, Saint-Ouen, 2001.